Die Carmina Burana – ein Gelehrtenulk?
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Berlin 2011 ·  Uwe Topper topper

Die Liedersammlung »Carmina Burana« (Carmina ist Plural von Carmen = Klagelied, Totengesang) aus Benediktbeuren in Bayern, die nach dem Kloster des Heiligen Benedikt in Beuren »Burana« genannt wird, stammt nach allgemeiner Ansicht aus dem 12. und frühen 13. Jahrhundert. Sie ist in »mittellateinischer« und mittelhochdeutscher Sprache verfaßt, wobei auch einige altfranzösische Verse vorkommen.
Diese mittelalterliche Liedersammlung wurde einem größeren Kreis von Leuten erst durch Carl Orffs Vertonung einer kleinen Auswahl daraus bekannt.
Es gibt mehrere wissenschaftliche Übersetzungen der »Carmina Burana« und auch volkstümliche für den Gebrauch an Schulen. Es heißt, daß Lieder in dieser Art im ausgehenden Mittelalter in einem sehr weiten Bereich zwischen Atlantik und Indischem Ozean begeisterte Zuhörer gehabt haben. Die religiösen und sprachlichen Grenzen waren damals weniger eng gezogen, die kulturelle Einheit der fahrenden Scholaren, der Mönche und Magister, war spürbar kulturübergreifend. Sogar eine sufisch-arabische Komponente ist in diesen ›christlichen‹ Strophen erkennbar.
Die meisten dieser Carmina sind Studentenlieder, die hier wie in einem Kommersbuch vereinigt sind. Bei mehreren Liedern gewinnt man den Eindruck, daß sie von deutschen oder romanischen Liedern ausgehend durch die Studenten ins Lateinische übertragen wurden, sei es, um sich einen Spaß zu erlauben, sei es, um sie anderssprachigen Studenten mitzuteilen. Diese lateinischen Übersetzungen, in denen der Originaltext noch anklingt, wirken hölzern und kurios, erfreuen aber doch in ihrer Frische, etwa wie die Sprachspäße, die wir selbst als Schüler machten.
Einige Lieder springen zwischen zwei oder drei Sprachen hin und her. Das wäre für Studenten der damaligen Zeit und ihre multikulturelle Bildungsform normal. Offensichtlich hat aber bisher keiner der mindestens sechs Fachleute, die die an den Schulen verbreitete vorbildliche Ausgabe (1979) hergestellt haben, gemerkt, daß einige Zeilen aus sufischer Tradition stammen und sogar verständliche arabische Wörter wiedergeben; in der Anmerkung zu einer dieser Stellen heißt es: »wohl eine Art Tralala« (S. 945), und zu dem unerkannten Wort WAFNA in Lied 222 wird erläutert (S. 961): »Alarm- und Wehgeschrei.«
Als Beispiel bringe ich hier das 13. Lied (= C.B. 222), "Ego sum abbas"                                              

Ich bin der Abt der Freien Brüder,
und meinen Rat halt ich mit Säufern
ja, dem Würfel bin ich hörig.
Trifft mich jemand früh am Tresen,
geht er abends nackt hinaus.
Und so völlig ausgezogen schreit er:

»WAFNA!    AUFGEGEBEN!

Was du tatest, schlimmes Schicksal!
Denn um alle Lebensfreuden
hat mich nun dein Spruch gebracht.

WAFNA! AUFGEGEBEN!«

Die Nacktheit (arab. tadschrada) ist der sufische Begriff der Selbstaufgabe, die im folgenden Wort »WAFNA!«, das niemand bisher übersetzte, klar ausgedrückt ist: WA FANA' bedeutet aufgegeben, aufgehängt, hingegeben, trunken, und wird für die sufische Ekstase gebraucht.

Oder ein anderes Beispiel, das Lied Nr. 20 (= C.B. 174):
 Veni, veni, venias
  ne me mori facias,
   hyria! hyrie!
                                                            nazaza trillirivos!                                                   

Komm, oh komm, oh kämst du doch!
Laß mich hier nicht sterben!
"Freiheit!" ruf ich, "Freiheit!" noch.
"Wollust will den Kopf verderben."

Schön ist mir dein süßer Kopf,
deine Augen hell gepaart
und dein fest geflochtner Zopf,
deine lichte Eigenart.

Röter als der Rosen Rot,
lilienweiß wie keine,
Schönste aller Schönen mir,
rühm ich dich alleine.

 

In diesem Lied erkenne ich das Wort hyria und setzte es mit arabisch hurriya = Freiheit gleich; es könnte auch von huriya = himmlische Frau, kommen; Nazah bedeutet Leidenschaft, Wollust(hier steht es im Plural). Trillirivos dürfte zusammengesetzt sein, und zwar aus tirli, und aus rivos. Das erste ist vielleicht dem maghrebinischen Wort TIIRLIY = verwirren, nachgebildet; vielleicht ist es von tara = fliegen, abgeleitet; mit Trallala (wie meist behauptet) hat es nichts zu tun.
Und "rivos" kommt von ru'us, das bedeutet Köpfe (Plural). Zusammengesetzt bedeutet es also: die Köpfe verwirren. Die mit lateinischen Buchstaben wiedergegebenen arabischen Laute sind nicht eindeutig zu ermitteln.
Und weitere Einzelheiten waren mir aufgefallen: In der dritten lateinischen Strophe von Nr. 18 »Circa mea« drückt sich in den ›Göttern‹ noch das antike Heidentum aus. In Lied Nr. 19 »Si puer cum« (= C.B. 183) wird die Ironie deutlich, mit der sich damals die deutschen Schüler der lateinischen Sprache bemächtigten. Zudem war ich erstaunt, wie leicht ich generell diese Lieder ins Deutsche ›rückübersetzen‹ konnte, so als habe eine vormönchische deutsche Fassung der Lieder vorgelegen. Auch die Form erregte meine Aufmerksamkeit: Einige Lieder sind in modernen Rhythmen gedichtet und mit Endreim versehen – im 12. und 13. Jahrhundert? Und was heißt hier ›mönchisch‹? Was veranlaßte einen Benediktinermönch im Kloster dazu, diese erotischen und von Sauferei, Würfelspiel und Schwanenmahlzeit handelnden Lieder aufzuschreiben?
Die beunruhigenden Hinweise wurden stärker. Zu dem eben schon erwähnten Lied Nr. 13 »Ego sum abbas«  merkte ich an, daß der im lateinischen Text genannte Name des »Ordens von Kukanien« (abbas Cucaniensis führt zu Cucania, Land oder Orden) erfunden ist. Ich brauchte eine Weile, bis ich merkte, daß damit nur die k.u.k. Donaumonarchie, das kaiserliche und königliche Österreich, gemeint sein konnte. Hier hatte es sich der Schreiber der Lieder nicht verkneifen können, einen Fingerzeig zu legen. Die Bezeichnung Kukanien für die Doppelmonarchie ist ja recht jung, sie kam als Studentenchiffre erst nach 1806 auf, nachdem der Habsburger die deutsche Kaiserkrone niedergelegt hatte und die eines österreichischen Kaisers und Königs von Ungarn, Böhmen usw. annahm. In diesem Umfeld, nämlich unter Studenten nach der Säkularisierung, muß der Verfasser (oder die Gruppe der Verfasser) gesucht werden. Ihre Kenntnisse der rückprojizierten mittelalterlichen Bräuche sind umfassend, genau dem Rahmen der damaligen Philologie entsprechend. So kennen sie durchaus die Bedeutung der Schwanenmahlzeit, die ja auch in ritterlichen Texten vorkommt und höchst unchristlichen Hintergrund hatte. Auch die Passionsspiele sind diesen Schreibern wohlbekannt.
Gehen wir der Auffindungsgeschichte der Texte nach!
Als das Kloster von Benediktbeuren 1803 säkularisiert wurde, diente es bis 1819 als Institut für Optik, in dem Reichenbach und Fraunhofer ihre berühmten Gläser herstellten. In dieser Zeit wurden Tausende von alten Büchern und Handschriften aus dem Kloster in die Münchner Hofbibliothek überführt. Die Umstände der Auffindung des Codex der heute so benannten Benediktbeurener Liedersammlung sind höchst eigenartig. Der Leiter der Bibliothek, Baron von Aretin, soll gerade diesen Band 1803 als einzigen aus dem großen Haufen persönlich mitgenommen und irgendwann später der Bibliothek übereignet haben. Nach dessen Tod 1824 fand einer seiner Nachfolger, der herausragende Germanist Joseph Andreas Schmeller, den Codex und gab ihn 1847 unter dem Titel »Carmina Burana« heraus. Der Codex steckt in einem nachmittelalterlichen Einband und ist mit Illustrationen und einer Art Notenschrift versehen, was wohl beides nicht zur ursprünglichen Handschrift paßt. Unklar bleibt auch, ob er vor der Bekanntgabe durch Schmeller von jemandem bemerkt worden war oder ob die Anekdote von Aretins zeitweiliger Aneignung der Handschrift gut erfunden ist.
Schmeller hatte von 1806 bis 1808 in Madrid an einer Schule gelehrt und dabei sicher viel über die mittelalterliche romanische Lieddichtung erfahren; so könnte sich die frappierende Ähnlichkeit mancher Lieder mit denen des spanischen »Erzpriesters« Arcipreste de Hita erklären, die mir sogleich aufgefallen war, auch die sufisch-arabischen Wörter könnten hier ihren Ursprung haben.
Kein gutes Licht wirft diese Vermutung einer bewußten, wenn auch humorvollen Fälschung auf die anderen Entdeckungen Schmellers, etwa des Heliand (1830) oder der deutschen Evangelienharmonie des Ammonius (1841) und des Bruchstückes aus dem Muspilli (1832). Zur gleichen Zeit wurde ja sehr viel ›entdeckt‹ – in Wirklichkeit schamlos hergestellt, wie etwa die Königinhofer Handschriften von Hanka 1817, in denen halb versteckt die Autorschaft verraten wird: V. Hanca fecit (= "Wenzeslaus Hanka hat es gemacht", wie Walther Steller aufdeckte, S. 197 ff). Hankas Beweggründe waren nachvollziehbar, es ging um die Schöpfung einer tschechischen Nationalsprache. Bei Schmeller liegt das Tatmotiv weniger aufdringlich zutage, aber im Zuge der Romantik, die eine Erneuerung des deutschen Heidentums anstrebte, ist die Wiederauffindung christlicher Passionsspiele oder Evangelientexte durchaus mitbestimmend für die Geschichtsschreibung geworden.
Unter diesem Blickpunkt rücken auch andere Veröffentlichungen jener Zeit eher aus dem Dunstbereich von Fehldatierungen in den Bereich bewußter Fälschungen der Romantiker, wie die Ossian-Dichtung von MacPherson, das russische Igorlied oder die bretonischen Triaden und die Uralinda-Chronik (die auf Papier, das das Wasserzeichen einer holländischen Firma nach 1860 trägt, geschrieben ist). Das nimmt den Texten weder ihren künstlerischen Wert noch ihre Stellung innerhalb der Historiographie, sollte aber hinsichtlich von Behauptungen über tatsächliche Geschichte berücksichtigt werden.

Literatur:

Fischer, Carl  und Kuhn, Hugo : Carmina Burana.Vollständige Ausgabe nach  B. Bischoff,  A. Hilka und O. Schumann, mit Anm. und Nachwort von Günter Bernt (Zürich 1974/ dtv München 1979)
Steller, Walther (1975 postum): Deutsche Geschichtsforschung. Der Grundlagen zweiter Teil (Verlag K. Werner, Wien)

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